In dubiis
In dubiis
Hermann Hesse (1877-1962)
In dubiis
I
Es dringt kein Laut bis her zu mir
von der Nationen wildem Streite,
ich stehe ja auf keiner Seite;
denn Recht ist weder dort noch hier.
Und weil ich nie Horaz vergaß
bleib gut ich aller Welt und halte
mich unverbrüchlich an die alte
aurea mediocritas.
II
Der erscheint mir als der Größte,
der zu keiner Fahne schwört,
und, weil er vom Teil sich löste,
nun der ganzen Welt gehört.
Ist sein Heim die Welt; es misst ihm
doch nicht klein der Heimat Hort;
denn das Vaterland, es ist ihm
dann sein Haus im Heimatsort.
In dubiis
I
No sound till now assails my ear
Of nations who in strife collide;
I do not stand on either side;
Justice is neither there nor here.
Mindful of Q. Horatius,
I’m friends with all the world, and hold
Irrevocably to the old
Aurea Mediocritas.
II
He stands out as most great-hearted,
Loyal to no flag unfurled,
Who, from one small fragment parted,
Now belongs to all the world.
If his home’s the world, his homeland
Measures to no little space:
For his fatherland’s his cottage,
In his own familiar place.
Translation: Copyright © Timothy Adès
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All Things Pass
Vergänglichkeit
Hermann Hesse (1877-1962)
Vergänglichkeit
Vom Baum des Lebens fällt
mir Blatt um Blatt,
O taumelbunte Welt,
wie machst du satt,
wie machst du satt und müd,
wie machst du trunken!
Was heut noch glüht,
ist bald versunken.
Bald klirrt der Wind
über mein braunes Grab,
über das kleine Kind
beugt sich die Mutter herab.
Ihre Augen will ich wiedersehn,
ihr Blick ist mein Stern,
alles andre mag gehn und verwehn,
alles stirbt, alles stirbt gern.
Nur die ewige Mutter bleibt,
von der wir kamen,
ihr spielender Finger schreibt
in die flüchtige Luft unsre Namen.
All Things Pass
Leaf after leaf,
from life's tree, fall.
Bright whirling world,
you cloy, you pall.
You pall and you tire,
You make us drunken!
Today's glowing fire
Will soon be sunken.
At my brown grave
The wind shall blow;
Over the babe
Mother bends low.
May my star be bright,
The glance of her eyes!
On all else be blight!
All readily dies.
The great Mother stays,
From whom we came:
On the winds she plays,
As she scrawls our name.
Translation: Copyright © Timothy Adès
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I Asked You
Ich fragte dich
Hermann Hesse (1877-1962)
Ich fragte dich
Ich fragte dich, warum dein Auge
gern in meinem Auge ruht,
so wie ein reiner Himmelsstern
in einer dunklen Flut.
Du sahest lang mich an,
wie man ein Kind mit Blicken misst,
und sagtest freundlich dann:
Ich bin dir gut, weil du so traurig bist.
I Asked You
Your eye on mine rests easy:
I asked you why it would,
like a pure star celestial
on a benighted flood.
You looked at me and pondered,
as one weighs up a child.
‘Because your gaze droops downward,
I’m good to you,’ you smiled.
Translation: Copyright © Timothy Adès
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I grasped my angel, not letting him go
Ich liess meinen Engel lange nicht los
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Ich liess meinen Engel lange nicht los
Ich liess meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.
Da hab ich ihm seine Himmel gegeben,-
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt...
I grasped my angel, not letting him go
I grasped my angel, not letting him go,
and in his arms he was holding me
and he diminished as I did grow:
I was mercy, he was a trembling plea.
And there and then I gave him his heaven, -
he went from the field, and was suddenly gone;
and he learnt flying, and I learnt living:
we knew one another as time went on.
Translation: Copyright © Timothy Adès
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The quietest day of the year
(für Clara) Der stillste Tag im Jahr
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
(für Clara) Der stillste Tag im Jahr
Weihnachten ist der stillste Tag im Jahr.
Da hörst du alle Herzen gehn und schlagen
wie Uhren, welche Abendstunden sagen.
Weihnachten ist der stillste Tag im Jahr.
Da werden alle Kinderaugen groß,
als ob die Dinge wüchsen, die sie schauen
und mütterlicher werden alle Frauen
und alle Kinderaugen werden groß.
Da mußt du draußen gehn im weiten Land
willst du die Weihnacht sehn, die unversehrte,
als ob dein Sinn der Städte nie begehrte,
so mußt du draußen gehn im weiten Land.
Dort dämmern große Himmel über dir,
die auf entfernten, weißen Wäldern ruhn,
die Wege wachsen unter deinen Schuhn,
und große Himmel dämmern über dir.
Und in den großen Himmeln steht ein Stern,
ganz aufgeblüht zu selten großer Helle,
die Fernen nähern sich wie eine Welle,
und in den großen Himmeln steht ein Stern.
The quietest day of the year
Christmas, the quietest day of the year.
Of every heart you can hear the pulse,
like the evening hours that a timepiece tells:
Christmas, the quietest day of the year.
The children stare and their eyes are wide
as if things grew by a power supernal,
and all the mothers are more maternal:
the children stare and their eyes are wide.
You must go out in the countryside
if you want to see Christmas unimpaired:
as if for cities you never have cared,
you must go out in the countryside.
Great skies are twilit above your head,
at peace over white and distant woods:
the paths grow wider under your boots.
Great skies are twilit above your head.
And in the great skies there stands a star,
with a rare great brightness it has risen.
A wave comes in, it’s the far horizon,
and in the great skies there stands a star.
Translation: Copyright © Timothy Adès
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As the clouds shuffle
Wandelt sich rasch auch die Welt
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Wandelt sich rasch auch die Welt
Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.
Über den Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.
Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,
ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.
As the clouds shuffle
As the clouds shuffle, swift
is the world’s changing:
all things in fullness drift,
fall, find the Ancient.
Changing and ranging be
wider and freer:
constant thy melody,
God with the lyre.
Griefs are unnoticed and
love’s lore untended.
How we’re unfriended
by death, no hand unveils.
Only the song in the land
hallows and hails.
Translation: Copyright © Timothy Adès
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play the old songs love please
Kannst Du die alten Lieder noch spielen?
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Kannst Du die alten Lieder noch spielen?
Kannst Du die alten Lieder noch spielen?
Spiele, Liebling. Sie wehn durch mein Weh
wie die Schiffe mit silbernen Kielen,
die nach heimlichen Inselzielen
treiben im leisen Abendsee.
Und sie landen am Blütengestade,
und der Frühling ist dort so jung.
Und da findet an einsamen Pfade
vergessene Götter in wartender Gnade
meine müde Erinnerung.
play the old songs love please
play the old songs love please
through my grief they go
like silver keels
to secret isles
in the sunset’s glow,
landing at flowery quays
in the youth of spring.
and on lonely ways
dimmed gods will grace
my remembering.
Translation: Copyright © Timothy Adès
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Yrjö Kilpinen sings Kannst du die alten Lieder noch spielen? https://www.youtube.com/watch?v=7TRzAx8usSU
Early Spring
Vorfrühling
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Vorfrühling
Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,
greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.
Early Spring
Stiffness, gone. And now a softness
settles on the fields’ grey cover.
Little streams try out new noises.
Indeterminate caresses
reach for Earth from somewhere over.
Lanes run clear across the land.
Spring is suddenly at hand:
on the bare tree, see its traces.
Translation: Copyright © Timothy Adès
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See, they shall Live and Multiply
Denn, sieh: sie werden leben und sich mehren
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Denn, sieh: sie werden leben und sich mehren
Denn sieh: sie werden leben und sich mehren
und nicht bezwungen werden von der Zeit,
und werden wachsen wie des Waldes Beeren
den Boden bergend unter Süßigkeit.
Denn selig sind, die niemals sich entfernten
und still im Regen standen ohne Dach;
zu ihnen werden kommen alle Ernten,
und ihre Frucht wird voll sein tausendfach.
Sie werden dauern über jedes Ende
und über Reiche, deren Sinn verrinnt,
und werden sich wie ausgeruhte Hände
erheben, wenn die Hände aller Stände
und aller Völker müde sind.
See, they shall Live and Multiply
See, they shall live and multiply,
nor shall they be by time constrained;
like forest berries, bounteously,
and in their sweetness cloak the ground.
For blest are they who would not roam,
who in the rain stood roofless, mute:
to them shall all the vintage come,
to them a thousandfold, the fruit.
They shall endure beyond all ends,
all wealth whose meaning drains away,
to rise up like well-rested hands
when ranks’ and peoples’ hands decay.
Translation: Copyright © Timothy Adès
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A White Castle
Ein weißes Schloß
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Ein weißes Schloß
Ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit.
In blanken Sälen schleichen leise Schauer.
Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer,
und alle Wege weltwärts sind verschneit.
Darüber hängt der Himmel brach und breit.
Es blinkt das Schloß. Und längs den weißen Wänden
hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen ...
Die Uhren stehn im Schloß: es starb die Zeit.
A White Castle
A castle, white, in a white solitude.
Light rains go seeping through its empty halls,
Sick creepers close to death claw at the walls,
And all the paths towards the world are snowed.
The sky hangs over it, inert and wide,
The castle glitters. With uncertain hands
Feeling along white walls, fond hopes advance…
The castle’s clocks have halted. Time has died.
Translation: Copyright © Timothy Adès
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